Unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung – Auslandsbezug – Das Bundesarbeitsgericht


Wird ein Leih­ar­beit­neh­mer aus dem Aus­land uner­laubt iSv. § 1 AÜG aF ins Inland über­las­sen, führt die Ver­let­zung der Erlaub­nis­pflicht nicht zur Unwirk­sam­keit des Leih­ar­beits­ver­trags nach § 9 Nr. 1 AÜG aF, wenn das Leih­ar­beits­ver­hält­nis dem Recht eines ande­ren Mit­glied­staats der Euro­päi­schen Uni­on unter­liegt. Die Vor­aus­set­zun­gen eines Arbeit­ge­ber­wech­sels nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF sind in die­sem Fall nicht erfüllt.

Die Klä­ge­rin ist fran­zö­si­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge und hat ihren Wohn­sitz in Frank­reich. Sie wur­de von einer Gesell­schaft, die ihren Sitz in Frank­reich hat, zum 1. Okto­ber 2014 als Fachberaterin/Ingenieurin ein­ge­stellt. Das Arbeits­ver­hält­nis unter­liegt kraft Rechts­wahl fran­zö­si­schem Recht. Vom 1. Okto­ber 2014 bis zum 30. April 2016 wur­de die Klä­ge­rin von ihrer Arbeit­ge­be­rin, die nicht im Besitz einer Erlaub­nis zur Arbeit­neh­mer­über­las­sung nach § 1 AÜG aF war, im Betrieb der Beklag­ten in Karls­ru­he als Technikerin/Beraterin ein­ge­setzt. Nach­dem die Klä­ge­rin anschlie­ßend bei ande­ren Kun­den der Arbeit­ge­be­rin tätig war, kün­dig­te die­se das Arbeits­ver­hält­nis. In einem gericht­li­chen Ver­fah­ren in Frank­reich macht die Klä­ge­rin den Fort­be­stand des Arbeits­ver­hält­nis­ses gel­tend.

Mit der vor­lie­gen­den Kla­ge begehrt die Klä­ge­rin fest­zu­stel­len, dass sie zur Beklag­ten seit dem 1. Okto­ber 2014 in einem Arbeits­ver­hält­nis steht, und ver­langt außer­dem Differenz‑, Über­stun­den- und Annah­me­ver­zugs­ver­gü­tung. Sie hat im Wesent­li­chen die Auf­fas­sung ver­tre­ten, zwi­schen den Par­tei­en sei gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF zum 1. Okto­ber 2014 ein unbe­fris­te­tes Arbeits­ver­hält­nis zustan­de gekom­men. Sie sei der Beklag­ten zur Arbeits­leis­tung über­las­sen wor­den. Der Arbeits­ver­trag mit ihrer Arbeit­ge­be­rin sei, obwohl für das Arbeits­ver­hält­nis fran­zö­si­sches Recht gel­te, in Deutsch­land infol­ge der uner­laub­ten Über­las­sung nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirk­sam. Bei der Bestim­mung han­de­le es sich um eine Ein­griffs­norm iSv. Art. 9 Abs. 1 der Rom I‑VO*, die unab­hän­gig von der von den Arbeits­ver­trags­par­tei­en getrof­fe­nen Rechts­wahl gel­te.

Das Arbeits­ge­richt hat die Kla­ge abge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge über­wie­gend statt­ge­ge­ben. Die Revi­si­on der Beklag­ten hat­te vor dem Neun­ten Senat des Bun­des­ar­beits­ge­richts Erfolg.

Die Fest­stel­lungs- und Zah­lungs­kla­ge ist unbe­grün­det, weil zwi­schen den Par­tei­en kein Arbeits­ver­hält­nis zustan­de gekom­men ist. Die Vor­aus­set­zun­gen von § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF sind nicht erfüllt, selbst wenn die Klä­ge­rin der Beklag­ten als Leih­ar­beit­neh­me­rin über­las­sen wor­den sein soll­te. Die Begrün­dung eines Arbeits­ver­hält­nis­ses zwi­schen Leih­ar­beit­neh­mer und Ent­lei­her kraft Geset­zes gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF setzt vor­aus, dass der zwi­schen Ver­lei­her und Leih­ar­beit­neh­mer geschlos­se­ne Leih­ar­beits­ver­trag infol­ge einer iSv. § 1 AÜG aF uner­laub­ten Arbeit­neh­mer­über­las­sung nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirk­sam ist. Unter­liegt das Leih­ar­beits­ver­hält­nis dem Recht eines ande­ren Mit­glied­staats der Euro­päi­schen Uni­on, ord­nen weder § 2 Nr. 4 AEntG aF noch das AÜG an, dass § 9 Nr. 1 AÜG aF gegen­über die­sem Recht vor­ran­gig gel­ten soll. Soweit § 2 Nr. 4 AEntG aF – in Umset­zung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richt­li­nie 96/71/EG aF** – regelt, dass die „Bedin­gun­gen für die Über­las­sung von Arbeits­kräf­ten, ins­be­son­de­re durch Leih­ar­beits­un­ter­neh­men“ zwi­schen einem im Aus­land ansäs­si­gen Arbeit­ge­ber und sei­nen im Inland beschäf­tig­ten Arbeit­neh­mern und Arbeit­neh­me­rin­nen zwin­gend anzu­wen­den sind, bezieht sich dies auf Rechts- und Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten des natio­na­len Rechts, die Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gun­gen von Leih­ar­beit­neh­mern regeln, sowie auf die im Inland gel­ten­den gewerbe‑, ver­mitt­lungs- und erlaub­nis­recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen der Arbeit­neh­mer­über­las­sung. § 2 Nr. 4 AEntG aF ord­net nicht die Gel­tung von Bestim­mun­gen an, die – wie § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – den Bestand des Leih­ar­beits­ver­hält­nis­ses betref­fen. § 9 Nr. 1 AÜG aF ist auch kei­ne Ein­griffs­norm iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I‑VO. Das Arbeit­neh­mer­über­las­sungs­ge­setz gewährt Leih­ar­beit­neh­mern, die von ihren Arbeit­ge­bern aus einem ande­ren Mit­glied­staat der euro­päi­schen Uni­on ins Inland über­las­sen wer­den, kei­nen Schutz, der über den hin­aus­geht, der durch § 2 AEntG aF gewähr­leis­tet wird. Das öffent­li­che Inter­es­se an der Ein­hal­tung von § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF wird gesi­chert, indem § 16 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AÜG aF die Ver­let­zung der Erlaub­nis­pflicht als Ord­nungs­wid­rig­keit ahn­den.

Bun­des­ar­beits­ge­richt, Urteil vom 26. April 2022 – 9 AZR 228/21 –
Vor­in­stanz: Lan­des­ar­beits­ge­richt Baden-Würt­tem­berg – Kam­mern Mann­heim – Teil­ur­teil vom 9. April 2021 – 12 Sa 15/20 –

*Art. 9 Abs. 1 der Ver­ord­nung (EG) Nr. 593/2008 des Euro­päi­schen Par­la­ments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf ver­trag­li­che Schuld­ver­hält­nis­se anzu­wen­den­de Recht (Rom I‑VO) lau­tet:

„Arti­kel 9 Ein­griffs­nor­men

(1) Eine Ein­griffs­norm ist eine zwin­gen­de Vor­schrift, deren Ein­hal­tung von einem Staat als so ent­schei­dend für die Wah­rung sei­nes öffent­li­chen Inter­es­ses, ins­be­son­de­re sei­ner poli­ti­schen, sozia­len oder wirt­schaft­li­chen Orga­ni­sa­ti­on, ange­se­hen wird, dass sie unge­ach­tet des nach Maß­ga­be die­ser Ver­ord­nung auf den Ver­trag anzu­wen­den­den Rechts auf alle Sach­ver­hal­te anzu­wen­den ist, die in ihren Anwen­dungs­be­reich fal­len.“

**Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richt­li­nie 96/71/EG des Euro­päi­schen Par­la­ments und des Rates vom
16. Dezem­ber 1996 über die Ent­sen­dung von Arbeit­neh­mern im Rah­men der Erbrin­gung von Dienst­leis­tun­gen in der vom 10. Febru­ar 1997 bis 28. Juli 2018 gel­ten­den Fas­sung (Richt­li­nie 96/71/EG aF) lau­tet:

„Arti­kel 3 Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gun­gen

(1) Die Mit­glied­staa­ten sor­gen dafür, daß unab­hän­gig von dem auf das jewei­li­ge Arbeits­ver­hält­nis anwend­ba­ren Recht die in Arti­kel 1 Absatz 1 genann­ten Unter­neh­men den in ihr Hoheits­ge­biet ent­sand­ten Arbeit­neh­mern bezüg­lich der nach­ste­hen­den Aspek­te die Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gun­gen garan­tie­ren, die in dem Mit­glied­staat, in des­sen Hoheits­ge­biet die Arbeits­leis­tung erbracht wird,

– durch Rechts- oder Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten und/oder
– …
fest­ge­legt sind:

d) Bedin­gun­gen für die Über­las­sung von Arbeits­kräf­ten, ins­be­son­de­re durch Leih­ar­beits­un­ter­neh­men;“



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