Am 11. Mai 2023 hat das Bundesarbeitsgericht eine Entscheidung getroffen, die sich mit dem Tatbestandsmerkmal “in der Regel” in § 17 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) befasst. In dem Urteil mit dem Aktenzeichen 6 AZR 157/22 (A) stellt das Gericht klar, dass dieses Merkmal weder eine Stichtagsregelung noch eine Durchschnittsbetrachtung beinhaltet. Stattdessen bezieht es sich auf die Anzahl der Arbeitnehmer, die für den normalen Ablauf eines Betriebs charakteristisch sind. Dabei wird der bisherige Personalbestand betrachtet und gegebenenfalls eine Einschätzung über die zukünftige Entwicklung vorgenommen. Zeiten mit außergewöhnlichem Geschäftsgang werden dabei nicht berücksichtigt, wie auch der Europäische Gerichtshof bereits entschieden hat.
Allerdings bleibt unklar, ob die fehlerhafte Beurteilung der Betriebsgröße durch den Arbeitgeber, die zu einem Unterlassen der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG führt, weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Denn das vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Sanktionssystem könnte möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes stehen, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, und damit unverhältnismäßig sein. Um hier Klarheit zu erlangen, hat der Sechste Senat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache — C‑134/22 — ausgesetzt.
In dem vorliegenden Fall war der Kläger bei einem Großhandels- und Wartungsunternehmen beschäftigt, das bis September 2020 25 Arbeitnehmer beschäftigte, aber keinen Betriebsrat hatte. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Dezember 2020 legte der Insolvenzverwalter den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mindestens 10 Arbeitnehmern, darunter auch dem Kläger, ohne vorher eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Der Beklagte argumentierte, dass eine solche Anzeige nicht erforderlich gewesen sei, da das Tatbestandsmerkmal “in der Regel” auf einen bestimmten Stichtag abziele. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Ermittlung der Betriebsgröße sei unionsrechtswidrig. Das Landesarbeitsgericht entschied jedoch, dass die Kündigung wegen der fehlenden Massenentlassungsanzeige unwirksam sei und gab der Kündigungsschutzklage statt.
Das Bundesarbeitsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass die maßgebliche Betriebsgröße zum Zeitpunkt der Kündigung noch erreicht war und somit eine Massenentlassungsanzeige hätte erstattet werden müssen. Jedoch wird das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt, um festlegen zu können, welche Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG angemessen sind.
Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Mai 2023 mit dem Aktenzeichen 6 AZR 157/22 (A) ergibt sich aus einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 3. Februar 2022, wo die Kündigung aufgrund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam erklärt wurde.
Die Aussetzung des Verfahrens bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren betrifft nicht nur diesen Fall, sondern auch drei weitere Verfahren, bei denen ähnliche Fehler geltend gemacht werden.
Source link